Überleben auf dem Friedhof

Friedhöfe sind Rückzugsorte für Insekten in der Stadt. Hier finden die Tiere Futter und Plätze zum Nisten. Leider gibt es nur wenige Studien, die die Insektenvielfalt auf Friedhöfen genauer untersuchen. Darum habe ich mir zwei Areale angeschaut und ein Projekt entdeckt, das Friedhöfe für Insekten noch lebenswerter machen will.

Auf dem Hoppenlau-Friedhof in Stuttgart

Wenn ich im Hochsommer in Stuttgart bin, möchte ich am liebsten wieder weg. Zwischen Betonplatten und Asphalt wird es unangenehm heiß. Kühlere Orte findet man im Stuttgarter Talkessel selten – es sei denn, man entdeckt den Hoppenlau-Friedhof. Seine zahlreichen großen Bäume machen diesen fast 400 Jahre alten Friedhof zu einem angenehm schattigen Ort, an dem es sich aushalten läßt.

Auch Insekten kennen diesen Zufluchtsort: Ungestört besiedeln sie alte Eiben, Ahornbäume, Buchen und Kiefern, von denen manche bis zu 200 Jahre alt. Als ich an einem heißen Sommertag den Hoppenlau besuche und mir die Bäume genauer anschaue, kann ich zahlreiche Baumhöhlen erkennen. Gerade holzbewohnende Käfer lieben sie. Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass ich hier Arten wie den seltenen Juchtenkäfer finden könnte. Wegen ihm wurde der Bau des neuen Bahnhofs Stuttgart 21 damals unterbrochen, als er in Baumhöhlen im Schlossgarten gefunden wurde.  

Juchtenkäfer und Feuerwanzen

Um ihn zu entdecken, müsste ich einen der Stämme hinaufklettern und im Inneren einer Baumhöhle in einer dicken Mulmschicht aus zersetztem Holz nach ihm suchen. Da der Juchtenkäfer eine in Europa streng geschützte Art ist, ginge das nur mit einer Genehmigung.

Ich bleibe lieber am Boden. An einem sandigen Grabstein entdecke ich etwas, das zunächst aussieht wie ein Wimmelbild: Leuchtend schwarz-rote Feuerwanzen bewegen sich langsam hin und her, wie in Zeitlupe. Sie haben sich zu einem großen Pulk zusammengerottet und sonnen sich auf den steinernen Gräbern. Kleine Wanzen, Kinder sozusagen (Nymphen) leben hier zusammen mit erwachsenen Tieren. Die verschiedenen Entwicklungsstadien haben unterschiedliche Muster, aber alle tragen die typischen Farben der Feuerwanzen.

Feuerwanzen sind gerne im Pulk unterwegs. Foto: Nicola Wettmarshausen, CC BY-NC-ND

Seidenbienen am Efeu

Ob ich noch weitere Tiere entdecke? Vielleicht sogar welche, die seltener sind als die häufig vorkommenden Feuerwanzen? Ich streife an der Friedhofsmauer entlang, die das Areal umgrenzt. Die Sandstein-Mauer ist verputzt – für Spinnen und Co. nicht optimal, so gibt es weniger Lücken und Löcher als mögliche Behausung. Auch das rankende Efeu wurde kurz geschnitten. Schade, denn Efeu ist eine wertvolle Insektennahrung, weil die Pflanze als „Herbstweide“ bis in den Oktober blüht. 

Und wo Efeu ist, könnte ich die Efeu-Seidenbiene finden. Sie hat es auf den Pollen abgesehen, mit dem sie im Herbst ihren Larven füttert. Der Wildbienenexperte Paul Westrich hat diese Seidenbienenart auf Friedhöfen, aber auch schon in Sandkästen von Kindergärten brüten sehen. Sie mag Gärten, Parks und Friedhöfe besonders dann, wenn fluffige Bodenstellen oder Lösswände für den Nestbau zu finden sind.

Schwebfliege mit guter Mimikry

Als ich gerade weitergehen möchte, entdecke ich noch ein Fluginsekt: der Körper dunkelgelb und hellbraun gebändert, die Farben an eine Hornisse erinnernd. Der Körper ist allerdings kleiner und nicht so zigarrenähnlich. Riesige, rostrote Augen hat das Tier und einen ganz markanten Flugstil: Erst schwebt es eine Weile still auf einer Stelle und schlägt dabei mit den Flügeln wie ein Kolibiri, dann fliegt es plötzlich zackig weg. Mir gelingt gerade noch ein Foto, mit dem ich den Brummer später als Hornissen-Schwebfliege identifizieren kann.

Das Tier hat die perfekte Tarnung: Mit diesen Farben könnte man die Fliege, wenn sie ruhig auf einem Blatt sitzt, glatt für eine Hornisse halten. Das ist ihr Trick – verschafft es ihr doch einen exklusiven Zugang zu Hornissennestern, in die sie ihre Eier legt. Wie es die Schwebfliege schafft, dass die Hornissen sie nicht gleich angreifen und töten, ist nach wie vor unklar. Ob sie einen speziellen Duftstoff entwickelt hat, mit denen sie die Hornissen beschwichtigen kann?

Jedenfalls habe ich den Eindruck: Der Hoppenlau lebt. Insekten sind hier durchaus zu finden, und zwar eher in den nicht so aufgeräumten Randbereichen. Auf dem kurzgemähten Rasen neben den Wegen finde ich hingegen wenig. Kein Wunder, es blüht ja auch nichts. Ob es eine Studie gibt, der den Insektenbestand auf Friedhöfen genauer untersucht hat?

Bergfriedhof Tübingen. Foto: Nicola Wettmarshausen, CC BY-NC-ND

Der Bergfriedhof in Tübingen

Eine aktuelle Studie über den Bergfriedhof Tübingen gibt es von Lennart Bruchhof. 2020 untersuchte der Biologiestudent das Gelände im Rahmen seiner Bachelorarbeit an der Tübinger Uni. Er hatte sich das Areal auch deswegen ausgesucht, weil die Friedhofsverwaltung sich schon 2003 verpflichtet hatte, den Bergfriedhof als wichtigen Rückzugsort für gefährdete Tier- und Pflanzenarten zu erhalten und gemäß einer EMAS-Zertifizierung naturnah zu pflegen. Welche Insekten könnten dort leben?

Lennart Bruchhof vermutete eine große Insektenvielfalt, mit holzliebenden Käferarten wie dem Bock- oder Hirschkäfer. Die Tiere könnten sogar eher auf dem Friedhof vorkommen als im angrenzenden Waldgebiet, weil die Bäume auf dem Friedhofsareal viel länger leben dürfen, während sie im Wirtschaftswald oft zu früh gefällt werden – zu früh, um holzliebenden Käfern einen guten Lebensraum zu bieten.

Wespenspinne und Bläuling

An einem heißen Sommertag – es ist fast Abend – schaue ich mir den Friedhof genauer an. Gleich linkerhand gibt es eine „Bunte Wiese“, leider kurz zuvor gemäht. Zwischen den Stoppeln krabbelt  eine Wespenspinne. Auch sie ahmt das Warnkleid der Wespe nach, um sich von Feinden zu schützen. Mit den kurzen Halmen scheint sie klarzukommen; für viele andere Arten ist es vermutlich gerade zu heiß und zu trocken dort.

Auf dem Weg vor der Trauerhalle hat die Friedhofsgärtnerei ein großes Beet angelegt, die üppigen Lavendelbüsche sind aber bereits verblüht. Auf einem Halm entdecke ich einen Bläuling. Der Tagfalter wärmt sich an den letzten Sonnenstrahlen und lässt sich in Ruhe fotografieren.

Lennart Bruchhof fand natürlich mehr. Nachdem er zunächst die Pflanzenarten erfasst hatte, streifte er mit einem Käscher an den Hecken entlang und über die „Bunte Wiese“, um Hummeln und Tagfalter –  zwei der wichtigsten Bestäubergruppen – zu bestimmen. Die meisten Hummelarten (sieben von 29 in Baden-Württemberg lebenden Arten) fand er allerdings nicht in der Wiese, sondern am buschigen Lavendel. Auf der „Bunten Wiese“ fand er vierzehn Schmetterlingsarten – das sind rund zehn Prozent aller Arten, die es in Baden-Württemberg gibt. Falter wie das Große Ochsenauge, der Schachbrettfalter oder das Kleine Wiesenvögelchen waren dabei häufig, Bläulinge und Weißlinge gingen ihm seltener ins Netz. Im Bodenbereich der Hecken und im Waldareal des Friedhofs stellte der angehende Biologe Bodenfallen auf. Dreizehn Laufkäfer- und zehn Ameisenarten zählte er.

Bläuling auf Lavendel. Foto: Nicola Wettmarshausen, CC BY-NC-ND

Wie der Bergfriedhof noch insektenfreundlicher werden könnte 

Aus den gefundenen Arten leitete Lennart Bruchhof Vorschläge ab, wie der Bergfriedhof noch insektenreicher werden könnte. Hummeln und Heuschrecken würden profitieren, wenn möglichst viele der kurzstoppeligen Rasenflächen zu einer „Bunten Wiese“ umgewandelt würden, bepflanzt mit regionalen Blühern. Statt Pelargonien, Stiefmütterchen oder immergrünen Bodendeckern, die viele Gräber zieren – vermutlich, weil sie praktisch und pflegeleicht sind.

Gerade für Wildbienen, unter denen es einige Nahrungsspezialisten gibt, wären mehr heimische Pflanzen eine sehr wichtige Maßnahme. Denn jede einheimische Art versorgt durchschnittlich zehn Insektenarten mit Pollen oder Nektar. Besonders die Flocken- und die Acker-Witwenblume (Knautie) sind bei bestäubenden Insekten sehr beliebt, während die Züchtungen aus der Gärtnerei ihnen wenig bis gar nichts bringen.

Freiwerdende Gräber nutzen

Auf einer Online-Tagung höre ich von einem neuen BUND-Projekt. Auch hier wird diskutiert, dass Erdgräber immer weniger genutzt und dadurch mehr Grün- und Grabflächen frei werden könnten. Der BUND Baden-Württemberg (Bund für Umwelt und Naturschutz) hat deshalb das Projekt „Insektenfreundlicher Friedhof“ gestartet.

Auf vier Modell-Friedhöfen in Singen, Heidelberg, Stuttgart und Biberach sollen mit Unterstützung der Stiftung Naturschutzfonds Baden-Württemberg biodiversitätsfördernde Maßnahmen getestet werden. Zum einen werden Mustergräber mit heimischen Pflanzenarten angelegt, zum anderen werden monotone Rasenflächen in vielfältige Blühwiesen umgewandelt. Dazu verwendet das Projekt regionale, mehrjährige Saatmischungen.

Pflanzenfamilien kombinieren

Damit Insekten die ganze Saison über mit Nahrung versorgt sind, werden früh- und spätblühende Arten miteinander kombiniert. Außerdem sollen verschiedene Pflanzenfamilien (beispielsweise Kreuzblütler oder Doldenblütler) wachsen. Weil Blütenpflanzen sich im Laufe der Evolution gemeinschaftlich mit ihren Bestäubern entwickelt haben (Ko-Evolution), gibt es heute Insektenarten mit den verschiedensten Mundwerkzeugen und die dazu passenden Blütenformen.

Wildbienen mit einem kurzen Rüssel fliegen beispielsweise Taubnesseln, Natternkopf oder Glockenblumen an, Tagfalter mit ihrem langen Rüssel saugen Nektar aus tiefen, langen Blütenröhren, den sie beim Rotklee oder in der Flockenblumenblüte finden. Käfer wiederum fressen Pollen und brauchen leicht zugängliche Doldenblütler wie die Wilde Möhre.

Zum Mitmachen animieren

Um herauszufinden, welche Maßnahmen sich für welche Insekten besonders gut eignen, möchte das BUND-Projekt auf den Versuchsflächen die Wildbienen- und Schmetterlingsarten erfassen. Letztendlich ist es aber weniger ein Forschungs- als vielmehr ein Bildungsprojekt, bei dem man Friedhofsgärtner*innen und Besucher*innen motivieren möchte, das Gelernte auf den Grabflächen oder im eigenen Garten selbst anzuwenden.

Welcher Friedhof in Deutschland hat die meisten Insekten? Eine solche Studie gibt es bislang nicht. Es gibt aber eine Vergleichsstudie aus Wien, die das Artenspektrum und die Anzahl der Wildbienen auf Wiener Friedhöfen untersucht hat. Die fasse ich für Euch demnächst hier in Blog zusammen.

Welche Insekten habt Ihr auf den Friedhöfen in Eurer Umgebung entdeckt? Ich freue mich auf Euren Kommentar. Hier, bei Twitter oder Instagram!

Arbeitseinsatz für das BUND-BW-Projekt „Insektenfreundlicher Friedhof“. Foto: Melanie Marquardt, BUND BW e.V.

Headerfoto: Bergfriedhof Tübingen. Foto: Nicola Wettmarshausen, CC BY-NC-ND

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